Joseph Vollmer und der Orient-Express

 Einer der bedeutendsten Pioniere des Automobilbaus in der Welt

Joseph Vollmer 1914 – Archiv Gisela Zincke

Nach seinem nicht ganz freiwilligen Ausscheiden als Direktor der Eisenwerke Gaggenau gründete Theodor Bergmann am 1. März 1894 seine eigenen Industriewerke im benachbarten Ottenau.

Bereits im Februar 1888 hatte er dort eine im Bau befindliche Sägemühle erworben und daneben mit tatkräftiger Unterstützung seines Bruders Joseph und des Meisters Max Roth – später selbst Unternehmer – Werkstätten errichten lassen. Darin sollen bereits 1892 auf 1893 – also sieben Jahre nach Benz und Daimler – Versuche mit einem „motorgetriebenen Fahrzeug“ unternommen worden sein. Hätte es bei der offiziellen Gründung bereits ein vorzeigbares Motorfahrzeug gegeben, so wäre es sicher auf einem Gründungsfoto mit seinem „Arbeiterstamm“ mit abgelichtet worden.

 

Aber dieses Gründungsjahr 1894 sollte schicksalhaft werden für die weitere Entwicklung des Unternehmens und die Industrialisierung des Murgtals, denn in Baden-Baden hatte der junge Ingenieur Joseph Vollmer Pläne für den Bau eines motorgetriebenen Dreirades entwickelt. Vorausgegangen waren bei ihm eine Lehre als Feinmechaniker und Monteur in der Maschinenfabrik Esslingen. Dabei hatte er nach eigenen Angaben „des Öfteren Gelegenheit, auf dem gegenüberliegenden Gelände der Daimler’schen Werkstätten die Versuche mit Kraftwagen, Motorballons und Schienenfahrzeugen zu verfolgen“. Diese hinterließen bei ihm einen „begeisterten Eindruck“.

Vollmer hatte davon gehört, dass Theodor Bergmann allem Neuen gegenüber sehr aufgeschlossen war und berichtete später: „Im August 1894 habe ich mich zu Fuß über Ebersteinburg nach Gaggenau begeben und bei dem Fabrikanten Theodor Bergmann persönlich vorgesprochen. Ich schlug ihm vor, die Fabrikation von Motorfahrzeugen nach den vorgelegten, von mir gefertigten Konstruktionen aufzunehmen. Der Mann und die Zeichnungen haben Bergmann imponiert, und wir wurden schnellstens einig, dass ich den folgenden Tag die Werkstattzeichnungen bei meinen Eltern in Baden-Baden beginnen sollte, die dann nacheinander in den Bergmann-Industriewerken zur Ausfertigung gelangten. Wir fertigten ein 2- und 3-sitziges Phaeton, genannt „Orient-Express“, ca. 6 PS liegender Einzylinder-Motor, mit drei Riemenantrieben und einer Spannrolle, später mit Zahnradvorgelege.“

Blick in den Motorraum eines Orient-Express mit dem Riemengetriebe (rechts)

Mit der Aufnahme der Automobilproduktion im Jahr 1895 kann Bergmann für sich in Anspruch nehmen, nach Benz, Daimler und Lutzmann der vierte Hersteller in Deutschland gewesen zu sein. Und da die Genannten heute nicht mehr an ihrer ursprünglichen Produktionsstätte tätig sind, ist Gaggenau somit das weltweit älteste Automobilwerk am gleichen Standort.

In dem Buch „Die Automobile der Benzstadt Gaggenau“ beschreibt der Historiker Hans-Otto Neubauer die Orient-Express-Wagen wie folgt: „Dem Benz-Vorbild entsprechend war der Einzylindermotor liegend im Heck angeordnet. Die Kraftübertragung erfolgte über Riemen auf eine Vorgelegewelle und von dieser über zwei Ketten auf die Hinterachse. Dieser Anordnung lag das an Bergmann und Vollmer erteilte Patent Nr. 98 367 „Vorrichtung zur Änderung der Geschwindigkeit von Motorfahrzeugen“ zugrunde. Sie bestand aus vier Riemenscheiben für drei Vorwärts- und einen Rückwärtsgang, auf denen die Riemen lose aufgelegt waren. Durch eine quer verschiebbare Spannrolle konnten die entsprechenden Riemen gespannt und somit die gewünschte Geschwindigkeit gewählt werden. Die ersten Motoren hatte einen Hubraum von etwa 1,8 Liter und eine Leistung von 3 – 4 PS. Kurzzeitig kam eine sogenannte flammlose Glührohrzündung zur Anwendung, die aber bald durch eine Niederspannungs-Magnetzündung des Systems Bosch ersetzt wurde. – Vollmer war der erste, der im Automobilbau für die Orient-Express-Wagen Kugellager in den Getriebeorganen verwendete.“

Die Karosserie entsprach noch vollkommen der damals üblichen Kutschenform. So auch die des Orient-Express Nummer 104, der jetzt wieder nach Gaggenau zurückkommen soll.

Drei weitere Neuerungen erhielten Bergmann und Vollmer patentiert:

  • 88 151 – Gesteuertes Mischdoppelventil
  • 86 486 – Steuerung für mehrzylindrische Explosionsmaschinen zum Betrieb von Fahrzeugen
  • 91 531 – Vorrichtung zur Erzeugung eines Gases aus Luft und Petroleumdämpfen.

Ende 1897 löste Vollmer seinen Vertrag mit Bergmann, um eine neue Aufgabe in Berlin zu übernehmen. Nach seinen Konstruktionsprinzipien wurden aber in Gaggenau noch viele Jahre Orient-Express-Fahrzeuge weiter gebaut.

Den Kontakt zu Bergmann hielt Vollmer so lange wie möglich aufrecht. Heute zählt Vollmer – er verstarb 1955 – zu den zehn bedeutendsten Pionieren des Automobilbaus der Welt. Sein erstes Automobil entstand im Murgtal.

Seine Enkelin Gisela Zincke hat mit dem Titel „Joseph Vollmer – Konstrukteur und Pionier“ 2001 das Lebenswerk ihres Großvaters beschrieben. Das Werk ist auch in englischer Sprache erschienen.

 

 

Michael Wessel

 

 

 

 

 

 

 

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